Warum Deutschlands Aufrüstung keine Verteidigung ist.
Gastbeitrag von Günther Burbach
Man sagt uns, diese neue Aufrüstung sei alternativlos. „Kriegstüchtigkeit“ sei die Pflicht jedes verantwortungsvollen Staates. Es gehe ausschließlich um Verteidigung, Abschreckung und den Schutz der Demokratie. Doch wenn man genauer hinschaut, drängt sich eine unbequeme Frage auf: Was wollen wir eigentlich mit diesen Waffen tun, wenn wir sie, angeblich, niemals einsetzen wollen?
Die Antwort ist unbequem. Denn das Beschwören der reinen Verteidigungsabsicht hält einer nüchternen Betrachtung kaum stand. Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin, dass Deutschland, im Verbund mit der NATO und unter Führung der USA, eine offensive Komponente in seiner Militärdoktrin etabliert. Eine, die nicht nur „schützt“, sondern im Ernstfall auch zuschlägt.

Das Märchen von der reinen Verteidigung
Offiziell dient die Aufrüstung der „Abschreckung“. Doch wer sich die jüngsten Beschaffungen anschaut, sieht schnell, dass es um weit mehr geht als um den Schutz eigener Grenzen. Mittelstreckenraketen, Marschflugkörper, F-35-Kampfjets mit atomarer Teilhabe, all das sind keine Waffen für die Verteidigung eines Ackerstücks in Mecklenburg-Vorpommern. Das sind Projektionswaffen: Systeme, die tief im gegnerischen Territorium Ziele angreifen können.
Es ist, als würden wir der Bevölkerung eine Feuerwehr verkaufen, die in Wahrheit schwer bewaffnet vor Nachbars Garage steht, „nur für den Fall“.
Der schleichende Strategiewechsel
Bis vor wenigen Jahren war die Bundeswehr offiziell auf Landes- und Bündnisverteidigung ausgelegt. Auslandseinsätze waren politisch umstritten, Kampfeinsätze tabu. Mit der „Zeitenwende“ hat sich das Bild radikal verändert.
Heute wird offen über „präventive Schläge“ gesprochen, über „aktive Verteidigung“, ein Euphemismus, der in der Militärsprache seit jeher bedeutet, dass man nicht wartet, bis der erste Schuss fällt.
Die Beschaffung neuer Waffensysteme passt exakt in dieses Raster:
- F-35: Stealth-Bomber mit Reichweite weit ins russische Hinterland.
- Marschflugkörper Taurus (bzw. geplante Alternativen): Präzisionsschläge auf hunderte Kilometer Distanz.
- Eurodrohnen und bewaffnete UAVs: Ideal für „gezielte Tötungen“ außerhalb eigener Grenzen.
Die Rache-Logik
Viele in der Politik und den Thinktanks sprechen es nicht offen aus, aber sie denken in diesen Kategorien: „Russland hat die Ukraine angegriffen, wir müssen zeigen, dass wir zurückschlagen können.“
Diese Rache-Logik ist brandgefährlich. Sie verlagert die Rolle Deutschlands von einem Akteur, der Konflikte diplomatisch zu lösen versucht, hin zu einem militärischen Player, der im Ernstfall nicht nur reagiert, sondern agiert.
Das Narrativ „Wir wollen ja gar nicht“ ist trügerisch. Staaten rüsten nicht jahrzehntelang auf, um ihre Waffensysteme dann in der Garage verstauben zu lassen. Politische Realitäten ändern sich, Regierungen wechseln, und die Versuchung, teure militärische Kapazitäten „zu nutzen“, ist historisch gesehen hoch.
Die Doppelmoral der NATO
Während Berlin behauptet, es ginge um reine Verteidigung, betreibt die NATO seit Jahren Operationen weit außerhalb ihres eigentlichen Bündnisgebietes. Libyen, Afghanistan, Syrien, alles Einsätze, die mit Landesverteidigung nichts zu tun hatten.
Wer also glaubt, dass die neuen deutschen Waffensysteme ausschließlich zur Sicherung des Baltikums gedacht sind, ignoriert diese Realität. Sie sind Teil einer Gesamtstrategie, die geopolitische Interessen mit militärischer Macht absichert, ob in Osteuropa, im Nahen Osten oder darüber hinaus.
Medien als Begleitmusik
Die großen Medienhäuser leisten ihren Beitrag, indem sie die Idee von der „wehrhaften Demokratie“ unkritisch wiederholen. Kaum jemand stellt die entscheidende Frage: Warum brauchen wir Offensivwaffen, wenn wir uns nur verteidigen wollen?
Stattdessen werden die Bürger mit Angstnarrativen konditioniert: „Putin könnte…“, „Russland plant…“. Jede kritische Nachfrage wird reflexhaft als „Verharmlosung“ oder „Propaganda“ diffamiert.
Das Ergebnis: Eine öffentliche Debatte, in der Militarisierung als Normalität erscheint, und in der es schon als Tabubruch gilt, über Alternativen zu sprechen.
Vom Handelsstaat zum Frontstaat
Deutschland war jahrzehntelang erfolgreich, weil es auf Diplomatie, Handel und wirtschaftliche Verflechtung setzte. Diese Strategie hat uns Wohlstand und politische Stabilität gebracht. Heute bewegen wir uns in die entgegengesetzte Richtung: weg vom Handelsstaat, hin zum Frontstaat.
Ein Frontstaat produziert keine Diplomaten, er produziert Soldaten. Er lebt nicht vom Ausgleich, sondern von der Konfrontation. Er misst seinen Erfolg nicht an Handelsbilanzen, sondern an militärischen Kapazitäten. Und er akzeptiert stillschweigend, dass Konflikte nicht verhindert, sondern vorbereitet werden.
Das Risiko des Kontrollverlusts
Mit jeder neuen Waffe, die wir anschaffen, geben wir auch ein Stück Kontrolle ab, an Bündnispartner, an Rüstungskonzerne, an strategische Doktrinen, die in Washington oder Brüssel entworfen werden.
Wenn die politische Lage kippt, wenn die NATO beschließt, dass ein „präventiver Einsatz“ im Bündnisinteresse ist, dann werden diese Systeme nicht in einem deutschen Museum landen. Sie werden genutzt.
Und dann stehen wir mitten in einem Konflikt, den wir nicht begonnen haben, aber für den wir das Werkzeug bereitgestellt haben.
Ein anderes Deutschland ist möglich
Die Frage ist nicht, ob wir uns verteidigen dürfen. Die Frage ist, wie wir Sicherheit definieren.
- Sicherheit kann bedeuten: Rüstung, Abschreckung, Bündnistreue.
- Sicherheit kann aber auch bedeuten: Diplomatie, Energieautonomie, wirtschaftliche Resilienz.
Wir haben uns entschieden, den ersten Weg zu gehen. Noch ist Zeit, umzusteuern. Aber dazu braucht es politischen Mut, und den sieht man in Berlin derzeit nicht. Stattdessen sehen wir Duckmäusertum, Hörigkeit gegenüber den USA und ein blindes Mitlaufen in einem Spiel, dessen Regeln nicht wir schreiben.
Wir rüsten nicht nur auf, um uns zu verteidigen. Wir rüsten auf, um anzugreifen, wenn es die geopolitische Lage verlangt. Wer das leugnet, ignoriert die Natur der Waffensysteme, die wir beschaffen, und die Strategien, in die wir eingebettet sind. Die Zeitenwende ist keine Verteidigungsoffensive. Sie ist die stille Transformation Deutschlands zu einem Akteur, der Kriege führen kann. Und das ist eine Entwicklung, die man nicht schönreden darf.
Anm. der Redaktion: Dieser Beitrag ist in voller Länge bei Overton erschienen.
Quellen
„Zeitenwende“ & „Kriegstüchtigkeit“
- Bundesministerium der Verteidigung – Verteidigungspolitische Zeitenwende (Ziel: „kriegstüchtige Truppe“)
https://www.bmvg.de/de/themen/sicherheitspolitik/zeitenwende - Deutscher Bundestag – Regierungsbefragung: Pistorius zur „Kriegstüchtigkeit“ (5.06.2024)
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw23-de-regierungsbefragung-1002264 - BMVg – Artikelgesetz Zeitenwende (in Kraft 5.03.2025)
https://www.bmvg.de/de/aktuelles/artikelgesetz-zeitenwende-kommt-5883006
Beschaffungen mit Offensiv-/Projektionsfähigkeit
- Reuters – Deutschland kauft 35 F-35 (Grundsatz 14.03.2022)
https://www.reuters.com/world/europe/germany-decides-principle-buy-f-35-fighter-jet-government-source-2022-03-14/ - Reuters – Haushaltsausschuss billigt F-35-Deal (10 Mrd. €) (14.12.2022)
https://www.reuters.com/business/aerospace-defense/german-budget-committee-approves-f-35-fighter-jet-deal-with-us-sources-2022-12-14/ - Stars and Stripes – F-35-Stationierung in Büchel
https://www.stripes.com/theaters/europe/2022-06-14/german-air-force-transitions-to-f-35s%C2%A0-6338614.html - FAS/Bulletin (PDF) – Nukleare Teilhabe: B61 in Büchel (Faktenübersicht 2023)
https://fas.org/wp-content/uploads/2023/11/Nuclear-weapons-sharing-2023.pdf - Bundeswehr – Taurus KEPD-350 (Reichweite „bis zu 500 km“, Bunkerbrecher)
https://www.bundeswehr.de/de/ausruestung-technik-bundeswehr/ausruestung-bewaffnung/marschflugkoerper-taurus-kepd-350
Bewaffnete Drohnen (Heron TP / Eurodrohne)
- BMVg – Weg frei zur Bewaffnung Heron TP (06.04.2022)
https://www.bmvg.de/de/aktuelles/bewaffnung-der-heron-tp-drohnen-mit-praezisionsmunition-5389376 - ES&T – Erste bewaffnete Drohne ab 2024 (07.12.2022)
https://esut.de/2022/12/meldungen/38611/erste-bewaffnete-drohne-fuer-die-bundeswehr-ab-2024/ - Bundestag – Drucksache 20/4764 (Hintergrund zur Bewaffnung Heron TP / Eurodrohne)
https://dserver.bundestag.de/btd/20/047/2004764.pdf
NATO-Einsätze außerhalb klassischer Bündnisverteidigung
- NATO – Operation Unified Protector (Libyen 2011)
https://www.nato.int/cps/en/natohq/71679.htm - UN – Sicherheitsrats-Resolution 1973 (2011) Libyen
https://digitallibrary.un.org/record/699777?ln=en - NATO – Artikel 5 / Afghanistan: Bündnisfall und Einsatz
https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_183146.htm
Historische Belege (Kosovo, Irak)
- ZEIT-Matinee (Video) – Schröder: „Ich habe gegen das Völkerrecht verstoßen“ (Kosovo 1999)
https://www.youtube.com/watch?v=EKQ0ykFQav4 - Merkur – Bericht über Schröders Aussage zum Völkerrechtsbruch (09.03.2014)
https://www.merkur.de/politik/krim-krise-altkanzler-schroeder-kritisiert-ukraine-politik-zr-3405895.html - CIA Reading Room (Duelfer Report, 30.09.2004) – Irak: keine WMD-Bestände gefunden (Originaldokument, PDF)
https://www.cia.gov/readingroom/docs/DOC_0001156395.pdf - US-Government (govinfo) – Duelfer Report – Gesamtwerk (PDF-Portal)
https://www.govinfo.gov/app/details/GPO-DUELFERREPORT - US Congress (Hearing, 06.10.2004) – „…no stocks“ (Duelfer-Aussage) (PDF)
https://www.congress.gov/108/chrg/CHRG-108shrg23081/CHRG-108shrg23081.pdf
Deutsche Rüstungsausgaben / Rang
- SIPRI – Pressemitteilung 2025 (Deutschland +28 % auf 88,5 Mrd. USD; Rang 4)
https://www.sipri.org/media/press-release/2025/unprecedented-rise-global-military-expenditure-european-and-middle-east-spending-surges
- taz – „Muss Deutschland ‘kriegstüchtig’ werden? Warum nicht ‘wehrhaft’?“
Kritische Analyse des Begriffs „Kriegstüchtigkeit“ und seiner politischen Wirkung.
https://taz.de/Kriegstuechtigkeit-oder-Wehrhaft/!6094699/ - Telepolis – „Wehrpflicht 2.0: Deutschlands Weg zur Kriegstüchtigkeit“
Untersuchung, wie der Begriff „Kriegstüchtigkeit“ genutzt wird, um neue Wehrpflichtmodelle zu legitimieren.
https://www.telepolis.de/features/Wehrpflicht-2-0-Deutschlands-Weg-zur-kriegstuechtigkeit-10511497.html - Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (ISW) – „Kriegstüchtig“
Analyse der sprachlichen Militarisierung und Rückkehr von Begriffen wie „Frontstaat“ und „Kriegstüchtigkeit“.
https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5370-kriegstuechtig - Bundeszentrale für politische Bildung – „Kriegstüchtig?“
Sönke Neitzel über den semantischen und strategischen Wandel in Bundeswehr und Politik seit den 1990er Jahren.
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/bundeswehr-2024/556392/kriegstuechtig/ - Bundesministerium der Verteidigung – „Kriegstüchtig sein, um abzuschrecken“
Offizielle Darstellung der Bundesregierung zu den strukturellen Anpassungen der Bundeswehr.
https://www.bmvg.de/de/aktuelles/bundeswehr-der-zeitenwende-kriegstuechtig-sein-um-abzuschrecken-5765386 - Rosa-Luxemburg-Stiftung – „Die Kultur der Militarisierung“
Analyse, wie Begriffe wie „Kriegstüchtigkeit“ gesellschaftlich verankert werden, um Aufrüstung zu legitimieren.
https://www.rosalux.de/news/id/53516/die-kultur-der-militarisierung - Infosperber – „Wider die Kriegstüchtigkeit“
Schweizer Perspektive auf die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Militarisierung.
https://www.infosperber.ch/politik/wider-die-kriegstuechtigkeit/