Gastbeitrag von Peter Scheller
Seit Jahren weiten Regierungen in Europa und in Deutschland Überwachungsbefugnisse fast im Routinebetrieb aus: Anti-Terror-Pakete, neue Datensammlungen, digitale Identitäten, immer dichtere Sicherheitsnetze im öffentlichen Raum. Die Rhetorik ist stets dieselbe: „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.“ Ausgerechnet der Fußball – ein Ort, an dem Millionen Menschen Wochenende für Wochenende gemeinsam feiern – wird nun zum nächsten Testfeld dieses Überwachungsdrangs. Was früher Kriminelle, Terrorverdächtige oder „Extremisten“ waren, sind heute die Fans.
Geplante Maßnahmen
Konkret haben die Innenminister der Länder Anfang Dezember in Bremen über ein Maßnahmenpaket beraten, das den Stadionbesuch grundlegend verändern würde. Geplant sind bundesweit einheitliche, deutlich verschärfte Stadionverbote, eine zentrale Stadionverbotskommission beim DFB, vollständig personalisierte Tickets sowie der Einsatz automatisierter, KI-gestützter Gesichtserkennungssysteme.
Künftig soll ein Stadionverbot schon dann automatisch geprüft werden, wenn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Das soll unabhängig davon gelten, ob die betroffene Person später verurteilt wird oder sich der Verdacht zerstreut.
Zusammenarbeit mit den Fußballvereinen
Parallel dazu entsteht eine Struktur, in der private Stadionbetreiber und staatliche Sicherheitsbehörden enger verzahnt biometrische und andere Personendaten erheben und auswerten sollen. Juristische Analysen weisen bereits darauf hin, dass es für eine flächendeckende biometrische Erfassung aller Stadionbesucher gegenwärtig an einer klaren gesetzlichen Grundlage fehlt und dass insbesondere automatisierte Gesichtserkennung einen besonders intensiven Grundrechtseingriff darstellt.
Trotzdem wird das Paket politisch als logische Konsequenz einer vermeintlich eskalierenden Sicherheitslage verkauft. Genau hier beginnt der Bruch mit der Realität.

Stadien immer sicherer
Sicherheitsberichte der Polizei zeichnen ein völlig anderes Bild. Laut aktuellem Jahresbericht der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) wurden in der Saison 2024/2025 in den drei Profiligen 1.107 Menschen verletzt – ein Rückgang um 17,2 Prozent gegenüber der Vorsaison mit 1.338 Verletzten.
Gleichzeitig verzeichnete der Profifußball einen Zuschauerrekord von 25,26 Millionen Stadionbesuchen allein in Liga eins bis drei, also fast vier Prozent mehr als im Vorjahr.
Die Polizei zählte 5.197 Strafverfahren, rund 22 bis 24 Prozent weniger als zuvor – je nach Zählweise.
Wer diese Zahlen in Relation setzt, landet bei nur wenigen Verletzten pro 100.000 Stadionbesuchen und strafrechtlichen Vergehen im Promillebereich. Der Dachverband der Fanhilfen bringt es auf den Punkt: Stadien sind statistisch gesehen sehr sichere Orte. Das Gefährdungsniveau liegt deutlich unter dem vergleichbarer Großveranstaltungen, wie etwa bei Volksfesten.
Umdeutung einer Erfolgsgeschichte in ein Eskalationsdrama
Die Diskrepanz zwischen Statistik und Politik hat in den vergangenen Tagen zehntausende Fans auf den Plan gerufen. Unter dem Motto „Der Fußball ist sicher! Schluss mit Populismus – Ja zur Fankultur!“ demonstrierten Mitte November in Leipzig Fans aus dutzenden Vereinen gemeinsam. Die Polizei sprach von mehreren Tausend, Fanorganisationen von knapp 20.000 Teilnehmern.
Parallel dazu läuft eine Online-Petition gleichen Namens, adressiert an Bundes- und Länderinnenminister, die innerhalb weniger Tage zehntausende Unterschriften gesammelt hat und sich explizit gegen personalisierte Tickets, eine zentrale Stadionverbotskommission und „KI-gestützte Überwachungssysteme und Gesichtsscanner“ richtet.
Es wird gehandelt
An diesem Bundesliga-Wochenende ist der Protest vom Asphalt in die Arenen gewandert. In der 1. und 2. Bundesliga blieben die organisierten Fanszenen in den ersten zwölf Minuten vieler Spiele demonstrativ stumm. Man sah große Banner mit Botschaften wie „Gegen Generalverdacht“, „Totalitären Wahn stoppen“ oder „Soll das die Zukunft des Fußballs sein?“.
Auffällig ist dabei, wie geschlossen diese Bewegung auftritt. Fans von Vereinen, die sonst nichts füreinander übrig haben, sprechen plötzlich mit einer Stimme.
Ein zynisches Politikspiel
Dass Proteste so heftig ausfallen, hat Gründe, die weit über die Stadien hinausreichen. Denn die geplanten Maßnahmen sind nicht bloß technische Detailfragen der Zutrittskontrolle, sie sind Teil eines größeren politischen Projekts, nämlich der schrittweisen Normalisierung umfassender Datenerfassung im Alltag. Wenn vollständig personalisierte Tickets, zentrale Verdachtsdateien und automatisierte Gesichtserkennung im Fußball akzeptiert werden, warum sollten sie nicht auch im Nahverkehr, bei Konzerten, bei Stadtfesten oder im politischen Versammlungsrecht Einzug halten?
Trotz juristischer Bedenken treiben Innenminister und Ministerpräsidenten solche Modelle voran – nicht etwa, weil die Stadien außer Kontrolle geraten wären, sondern weil sich an der Kurve exemplarisch demonstrieren lässt, wie weit eine Gesellschaft bereit ist, für ein subjektives Sicherheitsgefühl Freiheitsrechte preiszugeben.
In diesem Licht wirkt die Linie der Politik zynisch. Obwohl der ZIS-Bericht ausdrücklich von „deutlich gestiegener Sicherheit“ in den Stadien spricht, bastelt eine von Hamburg geführte Bund-Länder-Arbeitsgruppe an „konsequenten und wirkungsvollen“ Verschärfungen.
Die 12 Minuten Stille an diesem Wochenende sind deshalb mehr als eine Randnotiz. Sie sind ein Misstrauensvotum gegen eine Sicherheitspolitik, die ohne Not versucht, ein ohnehin sicheres Umfeld in ein Experimentierfeld der allgemeinen Überwachung zu verwandeln.
Fazit
Die eigentliche Frage lautet nicht, ob man ein paar Chaoten aus den Stadien fernhalten kann. Das kann man mit den momentan verfügbaren Maßnahmen bereits heute. Die Frage ist, ob eine demokratische Gesellschaft wirklich hinnehmen will, dass Menschen für den Besuch eines Fußballspiels lückenlos identifizierbar sowie dauerhaft speicher- und auswertbar gemacht werden. Wenn der Staat nach einer Saison mit weniger Verletzten und weniger Straftaten darauf antwortet, indem er biometrische Systeme, zentrale Blacklists und Generalverdacht in Stellung bringt, dann liegt das Problem nicht in der Kurve, sondern im politischen System. Nun wachen auch Fußballfans auf. Es wäre gut, wenn ihnen der Rest der Republik zuhört, bevor das Stadion zum ersten Baustein einer Infrastruktur wird, in der Freiheit zur Kulisse und Überwachung zur Normalität wird.
Quellen
ZIS – Jahresbericht Fußball Saison 2024/2025 (PDF) – https://polizei.nrw/sites/default/files/2025-10/251009-1_ZIS-Jahresbericht_2024-2025_2.pdf
ZIS – Jahresbericht Fußball Saison 2018/2019 (PDF) – https://lzpd.polizei.nrw/sites/default/files/2020-05/Z-200525-2%28ZIS-Jahresbericht%202018-2019%20final%20-%20Stand%2025.05.2020%29.pdf
Dachverband der Fanhilfen – „Neuer ZIS-Bericht belegt Sicherheit der Stadien – Politik und Verbände müssen endlich einlenken“ – https://www.dachverband-fanhilfen.de/pressemitteilungen/neuer-zis-bericht-belegt-sicherheit-der-stadien-politik-und-verbaende-muessen-endlich-einlenken/
openPetition – „Der Fußball ist sicher – Schluss mit Populismus! Ja zur Fankultur!“ – https://www.openpetition.de/petition/online/der-fussball-ist-sicher-schluss-mit-populismus-ja-zur-fankultur
Deutschlandfunk – „12 Minuten Schweigen im Stadion: Fußball-Fanproteste gehen am Wochenende weiter“ – https://www.deutschlandfunk.de/12-minuten-schweigen-im-stadion-fussball-fanproteste-gehen-am-wochenende-weiter-104.html
Legal Tribune Online – „Sicherheit im Stadion: Wo das Recht Grenzen setzt“ – https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/fussball-sicherheit-fandemo-gesichtserkennung-stadionverbot-imk