Verteidiger der Demokratie oder Brandmauer-Präsident?

Gastbeitrag von Peter Scheller

Übt Frank-Walter Steinmeier sein Amt noch im Sinne des Grundgesetzes aus?

Schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten nach den Erfahrungen mit dem mächtigen Reichspräsidenten der Weimarer Republik ein anderes Staatsoberhaupt. Es sollte kein heimlicher „Ersatzkanzler“ sein, sondern ein Präsident mit begrenzten politischen Befugnissen, dafür aber mit hoher moralischer Autorität. In den Beratungen auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat wurde festgehalten, dass der Bundespräsident die „Einheit des Staates“ verkörpern und eine ausgleichende Stellung einnehmen soll. Das Bundesverfassungsgericht hat dies später so geurteilt. Der Bundespräsident soll gegenüber den politischen Parteien eine gewisse Distanz wahren und gerade dadurch integrativ wirken. Von ihm wird traditionell erwartet, dass er über dem parteipolitischen Tageskampf steht und in Krisen moderierend, mahnend und verbindend auftritt.

Die Rede des Bundespräsidenten vom 9. November 2025

Vor diesem Hintergrund wirkt Steinmeiers Rede1 zum 9. November 2025 wie ein Testfall dafür, wie eng oder wie weit dieses Rollenverständnis heute ausgelegt wird. Unter dem Titel „Die Selbstbehauptung der Demokratie – das ist die Aufgabe unserer Zeit“ zeichnet der Bundespräsident das Bild einer liberalen Demokratie, die so bedroht sei wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Neben dem russischen Angriffskrieg benennt er vor allem „rechtsextreme Kräfte“, die demokratische Institutionen angreifen und in der Bevölkerung an Zustimmung gewinnen. Er ruft dazu auf, die Instrumente der wehrhaften Demokratie entschlossen zu nutzen, und nennt Disziplinarmaßnahmen gegen „Verfassungsfeinde“ im Staatsdienst, klare Brandmauern der Parteien der Mitte und – als „Ultima Ratio“ – auch ein Parteiverbot für Kräfte, die sich „aggressiv-kämpferisch“ gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung wenden.

Steinmeier: Verteidiger der Demokratie oder Brandmauer-Präsident?

Spaltende Tendenz der Rede

Auffällig ist dabei eine Spannung in der Rede selbst. Steinmeier warnt einerseits ausdrücklich vor einem inflationären Gebrauch des Etiketts „rechtsextrem“ und davor, legitime Mitte-rechts-Positionen vorschnell in die Nähe von Extremismus zu rücken. Themen wie Migration und Sicherheit müssten diskutierbar bleiben, ohne dass jede Kritik sofort als rassistisch gebrandmarkt werde. Gleichzeitig setzt er den Schwerpunkt seiner Gefahrenanalyse und seiner politischen Schlussfolgerungen fast ausschließlich beim Rechtsextremismus an. Wenn er über Brandmauern, Parteiverbotsdiskussionen und den Ausschluss von „Verfassungsfeinden“ aus Ämtern spricht, sind damit faktisch Akteure „vom rechten Rand“ gemeint. Die AfD wird zwar nicht namentlich erwähnt, ist aber nach Ansicht vieler Kommentatoren offensichtlich gemeint.

Hier setzt die Kritik an, die Steinmeier vorwirft, das Amt politisch zuzuspitzen. Kommentatoren etwa in der WELT sprechen von einer „Brandmauer-Rede“, in der der Bundespräsident eine wesentliche Chance versäume, die Demokratie breiter zu erklären und stattdessen eine faktische Kampfansage an eine bestimmte Oppositionspartei formuliere. AfD-Vertreter wiederum werfen ihm Amtsmissbrauch und Parteinahme vor. Politikwissenschaftliche Stimmen sehen das Risiko, dass mit der Logik der wehrhaften Demokratie nun auch Gesinnungskontrolle, insbesondere im Staatsdienst, salonfähig werde.

Einseitige Risikobetrachtung

Zugleich steht die einseitige Zuspitzung auf Rechtsextremismus in einem Spannungsverhältnis zu den Veröffentlichungen des Bundesamts für Verfassungsschutz. Der Verfassungsschutzbericht und die aktuellen „Zahlen und Fakten“ zeichnen ein mehrpoliges Gefahrenbild. Rechtsextremismus bleibt in Deutschland zwar der größte Extremismusbereich2. Gleichzeitig weist der Bericht für 2024 ein linksextremistisches Personenpotenzial von rund 38 000 Personen aus, darunter etwa 11 200 Gewaltbereite. Die Zahl linksextremistisch motivierter Straftaten ist 2024 um rund 38 Prozent auf 5.857 Delikte gestiegen. Das Bundesamt spricht davon, dass Linksextremisten „nahezu täglich“ Straftaten verüben, häufig gegen AfD-Vertreter, Polizei und kritische Infrastruktur.

Der „blinde Fleck“

Steinmeier erwähnt zwar an einer Stelle, dass politische Gewalt „ob rechts, ob links, ob islamistisch“ zu verfolgen sei, bleibt aber in seiner Rede bei Beispielen und Konsequenzen nahezu vollständig auf der rechten Seite. Von dezidierten Forderungen oder konkreten Maßnahmen gegen linksextreme oder islamistische Strukturen ist kaum die Rede. Während die Sicherheitsbehörden also ein Gefahrenpotential in verschiedenen Bereichen sehen, richtet der Bundespräsident das politische und moralische Licht fast ausschließlich auf den Rechtsextremismus. Kritiker sehen darin eine Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung, weil andere Bedrohungen in der politischen Kommunikation deutlich blasser bleiben.

Ein ähnliches Muster wird aktuell in Hamburg sichtbar, wie der Beitrag „Neues aus der Hamburgischen Bürgerschaft“ des Landesverbands dieBasis Hamburg zur Plenarsitzung am 12. November 2025 beschreibt3. Ausgangspunkt der Aktuellen Stunde war ein mutmaßlich linksextrem motivierter Brandanschlag auf das Auto des AfD-Bundestagsabgeordneten Dr. Bernd Baumann. Nach Darstellung des Artikels erklärten zwar alle Fraktionen, Gewalt sei in der politischen Auseinandersetzung inakzeptabel, doch rechtsextreme Gewalt wurde von fast allen Rednern als zentrale demokratische Bedrohung hervorgehoben, während linksextreme Gewalt von Parteien von der CDU bis zu den Linken nicht problematisiert wurde, obwohl Zahlen des Verfassungsschutzes diese ausdrücklich als relevantes Phänomen ausweisen. Der Autor spricht daher von einem „blinden Fleck“ der etablierten Parteien gegenüber Linksextremismus.

Fazit

Vor diesem Hintergrund stellt sich die eingangs aufgeworfene Frage:

Entspricht Steinmeiers Rede noch dem klassischen Rollenbild eines Bundespräsidenten, der über den Parteien steht oder wird er mit dieser Rede nicht eher zur Leitfigur der „Brandmauer-Politik“?

Man kann argumentieren, dass die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zum Kernauftrag des Staatsoberhaupts gehört und er deshalb auch deutliche Worte finden darf. Andererseits stellt die Kombination aus der scharfen Fokussierung auf Rechtsextremismus, der Unterstützung von Unvereinbarkeitsbeschlüssen und der offenen Diskussion eines Parteiverbots eine Parteinahme zugunsten der „Altparteien“ dar. Gemessen an den historischen Erwartungen an das Amt – integrativ, distanziert von Parteipolitik, repräsentativ für die Gesamtgesellschaft – hat der Bundespräsident seine eigentliche Aufgabe offensichtlich aus den Augen verloren.


Quellen:

  1. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Rede zum 9. November 2025 – „Die Selbstbehauptung der Demokratie – das ist die Aufgabe unserer Zeit“ – https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2025/11/251109-9-November-Matinee.html ↩︎
  2. Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2024 und Online-Daten „Zahlen und Fakten: Linksextremismus“ – https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2025-06-10-verfassungsschutzbericht-2024.pdf ↩︎
  3. dieBasis Hamburg, „Neues aus der Hamburgischen Bürgerschaft – Plenarsitzung am 12. November 2025“ – https://diebasis-hamburg.de/2025/11/neues-aus-der-hamburgischen-buergerschaft-7/ ↩︎