Vorgezogene Neuwahlen? Wie hoch ist die Chance eines vorzeitigen Aus’ der Ampelregierung?

von Holger Gräf

Derzeit brodelt es offensichtlich in der FDP. Mehrere Mitglieder wollen in einer Abstimmung erzwingen, dass die FDP die Ampel-Koalition verlässt. Das wäre das Aus der aktuellen Regierungskoalition, denn mit dem Ausscheiden der FDP wäre auch die Sitzmehrheit im Bundesparlament dahin.

Doch würde dieser Umstand automatisch zu vorgezogenen Neuwahlen führen? Und wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass die FDP tatsächlich die Koalitionspartnerschaft aufkündigt?

Vorgezogene Neuwahlen? Wie hoch ist die Chance eines vorzeitigen Aus’ der Ampelregierung? - BruchDerAmpel

Wer alt genug ist, weiß, dass es nicht der erste Fall dieser Art ist. 1982 kam es zum Bruch der sogenannten sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt. Inhaltlich zerstritten, kündigte die FDP ihre Zusammenarbeit mit der SPD auf, woraufhin Schmidt die Opposition zu einem konstruktiven Misstrauensvotum aufforderte. Da sich die FDP mit der Union verbündet hatte und mit dieser zusammen eine Mehrheit bildete, führte das zum Ende der bisherigen Regierung.

Auch 2005 wurde ein Regierungskabinett vorzeitig beendet, nachdem der damalige Bundeskanzler, Gerhard Schröder, die Vertrauensfrage gestellt und die nötige Kanzlermehrheit nicht erreicht hatte.

Während es 2005 zu vorgezogenen Neuwahlen kam, knüpfte 1982 die Regierung Kohl lückenlos an die Regierung Schmidt an, und zwar ohne dass die Bundestagswahl vorgezogen wurde.

Wenn eine Regierungskoalition zerbricht, gibt es theoretisch mehrere Möglichkeiten, wie man damit umgeht. Eine Möglichkeit wäre, sich neue Koalitionspartner zu suchen, wobei dann die jeweiligen Stimmenanteile der letzten Bundestagswahl zu beachten sind. Ist dies aus verschiedenen Gründen nicht möglich, beantragt der Bundeskanzler eine Auflösung des Bundestags beim Bundespräsidenten und es werden vorgezogene Neuwahlen anberaumt.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, warum es zu keiner neuen Koalition kommt. Keine Partei ist zur Koalition gezwungen, nur damit die Regierungsgeschäfte weiterlaufen und der Bundestag weiterbestehen kann. Und hier wird es spannend.

Schauen wir uns die Stimmenverhältnisse infolge der Bundestagswahl aus dem Jahr 2021 an:

SPD: 25,7 %

UNION: 24,1 %

GRÜNE: 14,8 %

FDP: 11,5 %

AfD: 10,3 %

DIE LINKE: 4,9 %

Es fällt auf, dass als Ersatz-Koalitionspartner für die FDP nur zwei Kandidaten infrage kämen, nämlich die Union und die AfD.

Mit der AfD, das wissen wir inzwischen hinlänglich, wird keine der anderen Parteien koalieren. Bleibt noch die Union als einzig möglicher Koalitionspartner übrig. Wäre die zu einer Koalition bereit? Wahrscheinlich nicht. Sie würde durch eine Regierungskoalition mit dem Rest der Ampelregierung keinerlei Vorteile gewinnen. Seit 2021 hat die Union stark in den Umfragewerten dazu gewonnen. Würde sie sich nun an einer Regierung beteiligen, so würde sie diese Zugewinne höchstwahrscheinlich wieder verlieren und sich als Alternative zur Ampel bei der nächsten Bundestagswahl selber ausschließen. Außerdem würde eine Koalition zwischen der SPD und der Union die Grünen überflüssig machen, was denen sicherlich nicht gefallen wird.

All das macht eine neue Regierungsbildung mit alten Mehrheiten sehr unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher sind vorgezogene Neuwahlen, die dann eine Regierungsbildung mit neuen Mehrheitsverhältnissen ermöglichen. Doch ist das wirklich die Chance für einen Neuanfang?

Wir sehen bereits seit Jahresbeginn, dass insbesondere die Union und die AfD in den Umfragewerten mächtig zulegen. Das freut vor allen Dingen die Wähler der AfD, die dabei jedoch vergessen, dass die Union aktuell wohl die mit Abstand meisten Stimmen erhalten würde. Der große Verlierer ist die SPD und nicht einmal so sehr die Grünen. Hätten wir in Deutschland keine absolute Koalitionsfreiheit und müssten die Parteien entsprechend ihrer Stimmenanteile miteinander koalieren, bis die absolute Mehrheit im Bundestag erreicht und somit eine Regierungsbildung möglich ist, wäre der Fall klar. Union und AfD würden eine komfortable Mehrheit von 370 Sitzen erreichen (basierend auf den Durchschnittswerten aller Meinungsforschungsinstitute, Stand 14.11.2023). Doch was würde passieren, wenn die Union eine Koalition mit der AfD ablehnt, was sehr wahrscheinlich ist? Aktuell würde sie eine hauchdünne Mehrheit mit der SPD zusammenbekommen. Doch falls die AfD noch mehr Stimmenanteile erlangt, wären die Grünen in der nächsten Regierungsbildung unvermeidbar, weil ansonsten keine regierungsfähige Mehrheitsbildung möglich wäre.

In diesem Licht betrachtet ist eine vorgezogene Bundestagswahl, wie sie von vielen sehnlichst herbei gewünscht wird, eher keine optimale Lösung.

Für dieBasis wäre sie ein unvergleichlicher Kraftakt, der wahrscheinlich unmittelbar an den Wahlkampf zur Europawahl anschließen würde. Es würde bedeuten, in allen Ländern Aufstellungsversammlungen abzuhalten, in allen Kreisen einen Direktkandidaten zu finden und binnen kürzester Zeit die benötigten Unterstützungsunterschriften zusammen zu bekommen.

Und auch für eine neue Wagenknecht-Partei, die sich ja derzeit erst in der Vorgründung befindet, käme eine so schnell herannahende Bundestagswahl zur Unzeit. Für eine Partei, die noch nie an der Parteienfinanzierung partizipiert hat, stellt eine solche Wahl eine finanzielle Herausforderung dar.

Last but not least gibt es einen weiteren Grund, warum es schlecht wäre, wenn die Ampel-Koalition zur Unzeit zerbräche, so schlimm sie auch ist: Es würde den brodelnden Volkszorn, der sich derzeit in den Umfragewerten bemerkbar macht, vorübergehend besänftigen. Eine neue Regierung bekäme zunächst einen gewissen Vertrauensvorschuss. Für ungefähr ein bis eineinhalb Jahre würde die trügerische Hoffnung zurückkehren, dass all die Fehler der Vorgängerregierung beseitigt werden. Erst nach und nach würde sich die Erkenntnis durchsetzen, dass dem nicht so ist, dass die Inflation nicht sinkt, die unsinnigen Gesetze, insbesondere die mit hohem grünen Anteil, nicht zurückgenommen werden und die Kriegsrhetorik nicht abebbt.

Damit würde sich der Wähler erneut betrogen sehen, doch dann hätte er weitere vier Jahre verloren.

Abschließend noch eine Kuriosität: Vor Olaf Scholz gab es lediglich drei SPD-geführte Regierungen. Was allen gemeinsam ist, ist der Umstand, dass sie kein reguläres Ende fanden. Willy Brandt stürzte über Günter Guillaume, Helmut Schmidt verlor ein Misstrauensvotum und Gerhard Schröder die Vertrauensfrage. Nach dem „Gesetz der Serie“ findet auch die aktuelle SPD-geführte Regierung ein vorzeitiges Ende.

 

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