Dialog und Debattenkultur am Brandenburger Tor zum Tag der Deutschen Einheit
Täglich sterben Menschen in einem direkten europäischen Nachbarland. Das muss aufhören.
Die aktuell politisch Verantwortlichen haben es versäumt, zur Befriedung beizutragen. Ganz im Gegenteil: Der Westen und Deutschland haben den Konflikt befördert.
Wie groß ist der historische Anteil Europas, der NATO und Deutschlands an der Eskalation in der Ukraine?
Dieser Frage versuchte David Claudio Siber in einem kurzen Impulsvortrag nachzugehen, mit dem Ziel einen Korridor für diplomatische Möglichkeiten zu öffnen.
Nach Angaben der Polizei haben bis zu 3.500 Menschen die Friedensdemonstration auf dem Platz des 18. März besucht. Die Veranstaltung verlief friedlich und gänzlich ohne Störungen. Wir danken allen Mitwirkenden.
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Impulsvortrag David Claudio Siber
Ich möchte Sie ebenfalls alle bei unserer Friedensdemonstration „dieBasis schafft Debattenraum für Frieden“ in Berlin willkommen heißen. Das Thema Frieden und seine Abwesenheit sind so zentral, dass es sich lohnt, eine ganze Veranstaltung zu diesem Thema abzuhalten. Der aktuelle Konflikt in der geografischen Ukraine und seine jüngeren historischen Vorbedingungen werden Thema meines kurzen Vortrags sein.
Zunächst möchte ich anmerken, dass es absolut inakzeptabel ist, politische Auseinandersetzungen mit Waffengewalt lösen zu wollen. Die Leidtragenden derartiger Konflikte sind immer die Menschen, die den Konflikt am wenigsten befördert haben, die Zivilbevölkerung, dort auch zuerst die wiederum Schwächsten. Daher ist aus meiner Sicht jede Form militärischer Intervention, egal durch welchen Akteur sofort zu unterlassen.
Herr Putin hat klar eine Grenze überschritten, indem er die territoriale Integrität der Ukraine missachtet, dies ist absolut nicht tolerabel. Staaten können im internationalen Gefüge nur zwei Handlungsformen annehmen: Status Quo geneigt oder revisionistisch. Entscheidet sich ein Staat dafür, seine Handlungsform zu ändern, so liegen die Gründe niemals nur innerhalb des jeweiligen Staates, sondern immer auch in anderen Ländern, historischen sowie globalen Zusammenhängen und zahlreichen anderen Faktoren.
Daher interessiere ich mich nicht vornehmlich für die Frage der Schuld oder gar moralischer Einordnungen zentraler Akteure, sondern für die Erkenntnis, die durch ein Verstehen der Zusammenhänge und Handlungsmotive zu einer Befriedung beitragen soll. Ein Denken in dichotomen Kategorien wie Verbündeter/Gegner oder Freund/Feind emotionalisiert und mobilisiert mittels Desinformation, daher lehne ich derartige Zuschreibungen ab, sie tragen schlicht nicht zur Lösung bei.
Da wir grundsätzlich, sowie aktuell, medial eine nachvollziehbar hohe Information aus westlicher Sicht erhalten, möchte ich hier und heute versuchen, eine möglichst wenig wertende Sicht aus anderer Perspektive einzunehmen. Diese soll nicht zwangsläufig eine russische sein, sondern durchaus auch eine historische. Selbstverständlich kann ich dies aus zeitlichen Gründen nur selektiv tun. Mein Ziel ist es, das Handeln Russlands verständlich zu machen, um davon ausgehend diplomatische Korridore für Verhandlungen aufzuzeigen.
Russland argumentiert, dass seine Handlungen in der Ukraine der Selbstverteidigung dienen. Dabei stützt es sich fortwährend auf das empfundene Aggressionspotential des Westens, ausgelöst durch die NATO-Ost Erweiterungen der letzten 25 Jahre. Insbesondere der Verlust ehemaliger Staaten des Warschauer Paktes wird in politischen Kreisen Russlands als Einbruch in historisch begründete Pufferstaaten wahrgenommen und damit als direkte Bedrohung russischer Sicherheitsinteressen.
Die Expansion der NATO ist also aus russischer Sicht eine Provokation. Russland versuchte dies in den vergangenen 25 Jahren mehrfach deutlich zu artikulieren, insbesondere im UN-Sicherheitsrat. Der Westen nahm diese Argumente jedoch fortwährend nicht so ernst, wie Russland es sich erwartete.
Die NATO wurde unter amerikanischer Führung gegründet, um demokratischen Frieden zu schützen und jedwede Aggression durch die damalige Sowjetunion abzuwehren. Mitgliedsstaaten genießen kollektive Sicherheit. Dadurch wird der Austausch von Truppen und Rüstungsgütern, auch durch Stationierung, möglich. Die USA hatte somit die Möglichkeit, eine dauerhafte militärische Strategie in Europa gegen die damalige Sowjetunion zu etablieren. Diese Strategie prägt auch heute einen Teil unserer Wahrnehmung.
Dieser mutmaßliche Konflikt zwischen Demokratie und Kommunismus verdeckte viele Verbrechen des Westens, beispielsweise das Ende des vietnamesischen Kolonialismus durch Frankreich, welcher, fälschlicherweise, als Kampf zwischen Demokratie und Kommunismus missverstanden wurde.
Das militärische Handeln der NATO, die Beispiele spare ich aus Zeitgründen aus, war und ist nicht immer leicht zu verstehen, auch dies erzeugte in Russland, nachvollziehbarerweise, eine gewisse Unsicherheit gegenüber den Zielen der NATO.
Die erste Auswirkung der Gründung der NATO spiegelt dies auch gut wider: 1955 gründete sich, als direktes Gegenstück, der Warschauer Pakt. Die scharfe Trennung zwischen West- und Osteuropa wurde also zentral durch die Bemühungen der USA befördert. Gleichzeitig verlor Europa, dies ist nicht wertend gemeint, einen erheblichen Teil der Motivation, eine eigene europäische und unabhängige Sicherheitsarchitektur aufzubauen. Dies hält bis heute an.
Das Misstrauen Russlands gegenüber einem imperialistischen Europa ist stark in der russischen Tradition und Historie verwurzelt. In Europa werden die expansiven militärischen Vorstöße gegen Russland wenig aus dem Blickwinkel Russlands thematisiert, doch es gab etliche:
- die polnische Besetzung des Kreml 1610,
- die schwedische Invasion Russlands 1708,
- die Napoleonische Invasion Russlands 1812,
- insbesondere beide Weltkriege,
um nur die größten Versuche zu nennen, Russland von Europa aus, ganz oder teilweise, zu erobern. Der russische Staat als solcher hat also ein kulturell vermitteltes, nationales Gefühl von Angst und Misstrauen gegenüber Europa entwickelt. In dieser Genese wird die NATO in Russland gängig als Werkzeug des westlichen Imperialismus wahrgenommen.
Mit dem Fall der Berliner Mauer und der darauf folgenden Desintegration der Sowjetunion büßte Russland einen erheblichen Teil seiner Sicherheitsarchitektur als Balance zur NATO ein, friedlich wohlgemerkt.
Darauf folgte ein historischer Moment, dieser erzeugte auch einiges an Desinformation und Widersprüchlichkeiten, ich bleibe hier bei den offiziell und archivarisch dokumentierten Geschehnissen.
George W. Bush Senior unterbreitete Michail Gorbatschow ein Angebot:
Sollte Deutschland der NATO beitreten, würde jegliche Ost-Expansion selbiger dauerhaft gestoppt.
„Not one inch eastwards“, waren die Worte des amerikanischen Präsidenten. Die USA bestreiten heute, diese Zusagen gemacht zu haben.
Dies war ein zentraler Punkt für dauerhaften Frieden in ganz Europa. Eine Frage, die ich offen stellen möchte:
„War dies der Moment, die NATO aufzulösen, um es dem Warschauer Pakt gleich zu tun?“
Zu diesem Zeitpunkt hatte die NATO 16 Mitglieder, inklusive Deutschland, aktuell sind es 30 Mitglieder und es werden unentwegt neue Gespräche geführt. Dies wohlgemerkt jeweils unter starkem russischen Protest.
Hierzu möchte ich Wladimir Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 zitieren, welche einen Wendepunkt in der russischen Außenpolitik einläutete:
„Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben?
Die Steine und Betonblocks der Berliner Mauer sind schon längst zu Souvenirs geworden. Aber man darf nicht vergessen, dass ihr Fall auch möglich wurde dank der historischen Wahl, auch unseres Volkes, des Volkes Russlands, eine Wahl zugunsten der Demokratie und Freiheit, der Offenheit und echten Partnerschaft mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie.“
Der zentrale Hinweis hierin war, dass Russland sich nicht als kommunistisches Land begreift, sondern sich zunehmend in einen Demokratisierungsprozess begeben möchte und den Westen als Partner sah.
Dies war ebenfalls ein zentraler Punkt für dauerhaften Frieden in ganz Europa. Eine weitere Frage, die ich offen stellen möchte:
„War dies der Moment die NATO aufzulösen und Russland in seinem Demokratisierungsprozess zu unterstützen?“
Eine Mehrheit amerikanischer Politologen sah sich jedenfalls bereits 1997, zehn Jahre zuvor, gezwungen öffentlich klarzustellen:
„Die fortlaufende Ost-Erweiterung der NATO ist ein politischer Fehler von historischem Ausmaß.“
Die Äußerung des amerikanischen Diplomaten und Historikers George Kennan in der New York Times, vom 05. Februar 1997, möchte ich exemplarisch anführen:
NYT, 05. Februar 1997
„Ich glaube, dies war ein dramatischer Fehler. Es gab keinen Grund dafür. Niemand drohte jemand Anderem.“
Und weiter:
NYT, 05. Februar 1997
„Diese Entscheidung kann erwarten lassen, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“
Es war also mithin im handlungsstärksten und prägendsten NATO-Staat, den USA, sehr wohl bekannt, welche verheerenden Folgen die eigene Politik für die Zukunft haben könnte. Die europäische und die globale Zukunft.
Für viele Menschen in Russland ist die NATO ein Überbleibsel des kalten Krieges, dass der Westen sich davon nicht befreien möchte, ist eine massive Kränkung durch ein Empfinden von Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Man vermittelt Russland fortlaufend, dass es eine Gefährdung darstellt, die Folgen davon sehen wir in einem starken Revisionismus Russlands, zuvorderst auf der Krim, aber auch in Georgien und Afrika sowie zuletzt in der Ukraine.
Ein NATO-Beitritt der Ukraine stellt für die politische Elite Russlands eine ultimative rote Linie dar, eine direkte Herausforderung und Bedrohung russischer Interessen. Dies hat Putin ausdauernd, aber offensichtlich für den Westen nicht verständlich, annähernd über zwei Jahrzehnte hinweg versucht auszudrücken.
Mit den in Aussicht gestellten Verhandlungen über einen Beitritt hat Europa also selbst einen wesentlichen Beitrag zur Gefährdung des Friedens, mindestens im Grenzgebiet, zwischen Russland und der Ukraine befördert.
Um es deutlich auszudrücken:
Zu versuchen, die Souveränität eines Staates, hier der Ukraine, zu sichern, ist lobenswert. Aber einen Staat direkt an der Grenze zu Russland, hier die Ukraine, in ein anti-russisches Bündnis einzugliedern, ist Provokation. Die Ukraine selbst hat als souveränes Land jedes Recht der NATO beizutreten, aber die NATO, im Gegenzug, hat kein Recht darauf zu drängen.
Durch die Erinnerung an die Auflösung der Sowjetunion, als Moment der ultimativen Schwäche, sowie die nicht-Auflösung der NATO bewertet Russland jede NATO-Erweiterung als strategischen Verlust und nationale Erniedrigung.
Wenn wir in Zukunft analysieren, warum Russland eine Invasion in die Ukraine gestartet hat, müssen alle vorgenannten Punkte, sowie weitere, mit einbezogen werden.
Rechtfertigen diese Punkte die Invasion: Mit absoluter Sicherheit nicht, diese Handlung ist kriminell!
Ethische Bedenken spielen bei Machthabern oft keine Rolle, das wissen Sie alle. Die Situation ist also riskant. Die strategischen Methoden einer neorealistischen Außenpolitik von Großmächten sind Respekt und Furcht, Putin nutzt diese Methoden wie Andere zuvor und zugleich.
Was ich versuchte darzustellen:
Der Westen, auch Deutschland, ist nicht unschuldig. Es wurde nicht getan, was getan werden konnte, viele Gelegenheiten wurden nicht genutzt, Vertrauen wurde zerstört und Vereinbarungen nicht eingehalten.
Die Lieferung von Waffen, eine Erhöhung des Wehretats, anti-russische Stimmung bis hin zu Hass und Sanktionen, die auch in Russland die Schwächsten treffen, lehne ich persönlich sehr entschieden ab, ich empfinde dies als unwürdig und menschenverachtend.
Wenn wir es also ernst meinen damit, diesen Krieg zu beenden, dann sollten wir uns zuvorderst ehrlich mit den eigenen Verfehlungen auseinandersetzen und diese in diplomatische Bemühungen einbringen, dies benötigt Selbstreflexion und Größe.
Ich hoffe, ich konnte mit diesem, sicherlich sehr verkürzten, Beitrag wertneutral vermitteln, dass unterschiedliche Perspektiven immer eine Chance sind.
Differenz ist mehr als das, was uns trennt, Differenz ist die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten stärker gewichten zu können und eine nachhaltige Akzeptanz füreinander zu entwickeln.
Die Gemeinsamkeit, welche alle Menschen verbindet, ist der Wunsch nach Frieden und das ist es, worauf sich alle politischen Entscheidungsträger in diesen Tagen erneut besinnen sollten.
Vielen Dank
David Claudio Siber – dieBasis, AG EU und Europa, FaSPiA