EU-Sanktionen: Wenn Meinungen zu „hybriden Bedrohungen“ werden

Folgen für Rechtsstaat und Demokratie

Gastbeitrag von Peter Scheller

Die EU hat ihr Sanktionsinstrumentarium in den vergangenen Jahren stark ausgeweitet. Längst geht es nicht mehr nur um Oligarchen, Minister oder Rüstungsbetriebe, sondern zunehmend um Personen, denen „Informationsmanipulation“ oder die Verbreitung „pro-russischer Narrative“ vorgeworfen wird. Jüngst traf es etwa den Schweizer Ex-Geheimdienstoffizier und Sicherheitsexperten Jacques Baud, dem die EU vorhält, als „Sprachrohr pro-russischer Propaganda“ aufzutreten.

Diese Entwicklung markiert eine Verschiebung. Politische Analysen und Kommentare werden nicht mehr nur mit Gegenargumenten beantwortet, sondern mit Einreiseverboten und Vermögenssperren. Das ist rechtlich möglich, aber rechtsstaatlich und demokratiepolitisch hoch problematisch.

EU-Sanktionen gegen Jacques Baud

1. Was die EU formal darf – und was sie daraus macht

Rechtlich stützt sich die EU auf ihre Sanktionskompetenzen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik:

  • Artikel 29 EUV erlaubt dem Rat, außenpolitische Beschlüsse mit restriktiven Maßnahmen zu fassen.
  • Artikel 215 AEUV erlaubt anschließend Verordnungen, die z. B. das Einfrieren von Vermögen oder Einreiseverbote in allen Mitgliedstaaten verbindlich machen.

Im Oktober 2024 hat der Rat auf dieser Grundlage einen neuen Rahmen geschaffen, um „Russlands destabilisierende Handlungen“ und verschiedene „hybride Bedrohungen“, einschließlich Desinformation und „Foreign Information Manipulation and Interference (FIMI)“, zu sanktionieren.

In diesem Rahmen beschloss der Rat im Dezember 2025, zwölf Personen und zwei Organisationen zu listen. Darunter sind ausländische Experten und Kommentatoren, denen vorgeworfen wird, in russischen Medien oder pro-russischen Formaten Narrative zu verbreiten, die in der EU als sicherheitspolitisch schädlich gelten.

Formal bewegt sich die EU damit auf dem Boden ihrer Verträge. Die Frage ist weniger, ob sie solche Sanktionen verhängen darf, sondern wie sie es tut und ob diese den eigenen Ansprüchen an Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit gerecht wird.

2. Völkerrechtlich zulässig – aber menschenrechtlich heikel

Aus Sicht des allgemeinen Völkerrechts sind „targeted sanctions“ gegen Einzelpersonen zunächst nicht ungewöhnlich:

  • Jeder Staat darf entscheiden, wem er die Einreise erlaubt.
  • Er kann auch Transaktionen seiner eigenen Banken mit bestimmten Personen verbieten.

Völkerrechtlich relevant werden solche Maßnahmen, wenn sie

  • durch ihre faktische Reichweite (globale Kettenreaktion bei Banken und Plattformen) zu einem nahezu vollständigen Ausschluss aus dem wirtschaftlichen Leben führen,
  • wenn sie in Bereiche hineinwirken, die als Menschenrechte geschützt sind. Diese sind insbesondere Eigentum, Berufsausübung, Meinungsfreiheit und das Recht auf ein faires Verfahren.

Die Menschenrechtsverträge, an die die EU-Mitgliedstaaten gebunden sind (insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und der UN-Zivilpakt), erlauben Beschränkungen, verlangen aber:

  • klare gesetzliche Grundlage,
  • ein legitimes Ziel (etwa nationale Sicherheit),
  • und vor allem Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit.

Spätestens dort beginnt die rote Linie, wenn Sanktionen primär an Kommunikation und Weltanschauungen anknüpfen, nicht an konkreten strafbaren Handlungen.

3. Rechtsstaatliche Grundsätze: Kadi, Al-Dulimi und die Realität

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im berühmten Kadi-Urteil 2008 klargestellt, dass auch Sanktionsakte der EU an den Grundrechten zu messen sind, insbesondere am Recht auf Eigentum, auf rechtliches Gehör und auf effektiven Rechtsschutz. Er erklärte eine Sanktionsverordnung für nichtig, weil die Betroffenen keine ausreichende Begründung und keine reale Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung hatten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in Al-Dulimi v. Schweiz entschieden, dass ein Staat auch bei der Umsetzung von UNO-Sanktionen ein Mindestmaß an gerichtlicher Kontrolle gewährleisten muss. Die Schweiz verletzte nach Auffassung des EGMR das Recht auf ein faires Verfahren, weil sie die UNO-Listung praktisch unüberprüfbar übernahm.

In der Theorie gibt es also rechtsstaatliche Leitplanken:

  • individuelle Begründung der Listung,
  • Einsicht in wesentliche Belege und
  • Zugang zu einem unabhängigen Gericht.

In der Praxis bleibt der Rechtsschutz jedoch eingeschränkt. Sanktionslisten beruhen häufig auf geheimdienstlichen Informationen und Betroffene sehen nur Zusammenfassungen. Verfahren vor dem Gericht der EU dauern Jahre; in dieser Zeit sind Vermögen eingefroren und Einreisen unmöglich. Und gerade bei Vorwürfen wie „Verbreitung pro-russischer Narrative“ ist die Grenze zwischen belegbarer Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten und bloßer Meinungsäußerung oft politisch interpretierbar.

4. FIMI: Wenn „meist nicht rechtswidriges Verhalten“ sanktioniert wird

Besonders brisant ist, wie die EU selbst „Foreign Information Manipulation and Interference (FIMI)“ definiert. In Berichten des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der EU-Agentur ENISA wird FIMI als „weit überwiegend nicht rechtswidriges Verhaltensmuster“ beschrieben – also als politisch problematische, aber rechtlich oft zulässige Kommunikation, die Werte, Verfahren und politische Prozesse beeinträchtigen kann.

Damit entsteht eine Schieflage. Einerseits betont die EU, es gehe um ein Verhalten, das in vielen Fällen kein Straftatbestand sei. Andererseits schafft sie ein Sanktionsregime, das genau dieses Verhalten mit Vermögenssperren, Reiseverboten und öffentlicher Brandmarkung belegt.

Für das grundrechtliche Verständnis der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK, Art. 11 EU-Grundrechtecharta) ist das ein Paradigmenwechsel. Anstatt auf Strafrecht und Medienrecht (z. B. Gegendarstellungs-, Widerrufs- und Unterlassungsansprüche) zu setzen, verschiebt sich der Konflikt in den Bereich außenpolitischer Verwaltungsakte. Damit schwinden Transparenz und Prozessrechte.

5. Die Schweiz: Zwischen Sanktionsnachvollzug und Grundrechtspflicht

Die Schweiz ist kein Mitglied der EU, übernimmt aber seit 2022 große Teile der EU-Sanktionen gegen Russland auf Grundlage des Embargogesetzes (EmbG). Dieses erlaubt dem Bund, Zwangsmaßnahmen zur Umsetzung von Sanktionen der UNO, der OSZE oder „wichtiger Handelspartner“ zu erlassen.

Die Regierung hat seither fast alle EU-Pakete zum Ukrainekrieg nachvollzogen; das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) dokumentiert dies ausdrücklich.

Im Fall der neuen EU-„Hybridbedrohungs“-Sanktionen gegen Personen wegen Informationsmanipulation zeigt sich jedoch Zurückhaltung: Schweizer Medien berichten, dass die Schweiz die spezifischen EU-Listungen gegen einzelne eigene Staatsbürger, darunter Jacques Baud, bislang nicht übernommen hat.

Das ist rechtlich folgerichtig und völkerrechtlich sinnvoll:

  • Die Schweiz ist nach EMRK und UNO-Pakt verpflichtet, effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren zu gewährleisten.
  • Nach Al-Dulimi darf sie Sanktionslisten nicht blind übernehmen, wenn dadurch jeder ernsthafte Rechtsschutz entfällt.

Übernimmt sie doch solche Listen, tragen die Schweizer Behörden – und nicht die EU – die Verantwortung, Betroffenen einen wirksamen Rechtsweg zu öffnen. Genau daran muss sich jede künftige Entscheidung messen lassen.

6. Meinungsfreiheit und Demokratie unter Sanktionsdruck

Die eigentliche Sprengkraft der neuen EU-Sanktionspolitik liegt nicht in der Zahl der Betroffenen, sondern in der Signalwirkung:

– Wer sicherheitspolitische Minderheitspositionen vertritt oder die NATO-/EU-Linie zur Ukraine kritisch kommentiert, kann unmittelbar in die Nähe „hybrider Bedrohungen“ gerückt werden.

– Der Übergang von „falscher“ oder einseitiger Analyse zu sanktionswürdiger „Informationsmanipulation“ bleibt definitionsoffen und damit politisch manipulierbar.

Wissenschaftler, Journalisten, Ex-Diplomaten und Offiziere werden sich dreimal überlegen, ob sie Analysen veröffentlichen, die leicht als „pro-russisch“ oder „destabilisierend“ etikettiert werden können.

Medienhäuser und Plattformen könnten aus Vorsicht Abstand zu Personen halten, die – rechtlich zulässig – kontroverse Positionen vertreten, aber auf einer Sanktionsliste stehen.

Demokratie lebt jedoch von Deutungskonkurrenz, die widerstreitende Narrative, auch Irrtümer, Zuspitzungen und unbequeme Perspektiven zulässt. Wer Informationskrieg ernst nimmt, muss ihn mit besserer Information, Offenlegung von Quellen, Förderung von Medienkompetenz und fairer Debatte beantworten und nicht mit administrativen Berufs- und Reisehindernissen und Vermögenseinfrierungen.

Diese von politischen Akteuren und von der Bürokratie getragenen Sanktionsmaßnahmen tun genau das, was sie ihren Kritikern vorwerfen. Sie wirken wie eine Zensur und untergraben das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Quellen:

Rat der EU (2025): Russian hybrid threats: Council sanctions twelve individuals and two entities over information manipulation and cyber-attacks. https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2025/12/15/russian-hybrid-threats-council-sanctions-twelve-individuals-and-two-entities-over-information-manipulation-and-cyber-attacks/

Rat der EU (2024): Russia: EU sets up new framework for restrictive measures against those responsible for destabilizing activities against the EU and its member states. https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2024/10/08/russia-eu-sets-up-new-framework-for-restrictive-measures-against-those-responsible-for-destabilising-activities-against-the-eu-and-its-member-states/

ENISA / EEAS (2022): Foreign Information Manipulation and Interference (FIMI) and Cybersecurity – Threat Landscape. https://www.enisa.europa.eu/sites/default/files/publications/Foreign%20Information%20Manipulation%20and%20Interference%20%28FIMI%29%20and%20Cybersecurity%20-%20Threat%20Landscape.pdf

EuGH (2008): Kadi and Al Barakaat International Foundation v Council and Commission (Joined Cases C-402/05 P and C-415/05 P). https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=celex%3A62005CJ0402

EGMR (2016): Al-Dulimi and Montana Management Inc. v. Switzerland (No. 5809/08). https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-164515

Schweizer Bundesrecht: Bundesgesetz über die Durchsetzung von internationalen Sanktionen (Embargogesetz, EmbG; SR 946.231). https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2002/564/de

SWI swissinfo.ch (2025): Former Swiss intelligence officer targeted by new EU sanctions on Russia. https://www.swissinfo.ch/eng/foreign-affairs/former-swiss-intelligence-officer-targeted-by-new-eu-sanctions-on-russia/90665703

 

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