Kinder in der Pandemie

Elia ist zweieinhalb Jahre alt. Bald hat er sein halbes Leben mit Corona und unter den Schutzmaßnahmen gelebt. „Mabes“ (Maske) war eines seiner ersten Wörter und anfangs hat er in der S-Bahn irritiert versucht, mir die Maske vom Gesicht zu ziehen. Ich habe ihm erklärt, dass alle hier eine Maske tragen müssen, und er hat den Menschen neugierig ins verdeckte Gesicht geschaut, mit seinen Fingern auf sie gedeutet und wiederholt „Mabes, Mabes, Mabes“ gesagt. Heute ist er hierüber wenig verwundert. Eher wundert es ihn, wenn wir überhaupt mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, um etwas zu unternehmen, was wir früher mehrmals die Woche miteinander getan haben (Musikgarten, Treffen mit Freunden und anderen Kindern, Schwimmbad, Tierpark,…). Statt mir den Mundschutz herunterzuziehen, versucht er inzwischen, sich selbst einen aufzusetzen. Elia kann mir zeigen, wie ein Coronatest funktioniert und weiß, dass er danach ein Gummibärchen bekommt. Er hält Abstand zu anderen Menschen, weil er gelernt hat, dass es Menschen oft Angst macht, wenn er ihnen zu nahe kommt.

Leon ist acht Jahre alt, kann „Corona“ perfekt schreiben und Viren malen. Seine größten Wünsche für 2021 sind: „dass Corona vorbei ist, Tennis spielen und Taekwondo“. Für seinen baldigen Geburtstag wünscht er sich, dass er ihn mit seinen Freunden feiern kann. Am Wochenende spielt er gerne Corona-Test-Zentrum. Dann zieht er sich Kittel, Handschuhe und Mundschutz an und lässt mich auf ein Glasplättchen hauchen, das er anschließend unter einem Mikroskop untersucht („Mama, ich habe einen Corona-Hauchtest erfunden, der ist nicht so schlimm“). Er hat geweint und wollte nicht mehr in die Schule, als ich ihm erklärt habe, dass er ab dem nächsten Tag acht bis neun Stunden täglich den Mundschutz tragen muss (Ganztagsklasse). Inzwischen trägt er ihn still, auch draußen in der Leibstraße, in der wir wohnen (Maskenpflicht). Selbst wenn es regnet oder schneit. Er hat geweint bei seinem dritten Coronatest und mich gefragt, ob er direkt nächste Woche wieder einen machen müsse, da ja jederzeit ein anderes Kind aus seiner Gruppe wieder positiv getestet werden könne. Er hat mich gefragt, wann alles wieder normal ist. Er soll sich in der Notbetreuung still auf seinem Platz beschäftigen, wenn er die Aufgaben selbstständig erledigt hat. Er soll nicht nur nicht mit anderen Kindern, die er gar nicht kennt, draußen sein und spielen, sondern auch nicht einfach in die Luft schauen. Weil ich es nicht ertragen kann, ihn so lange in der Notbetreuung zu wissen, wird er (teils mehrmals täglich) herumgereicht zwischen daheim, Notbetreuung, Oma und Opa. In einem ausgeklügelten System, welches sofort zusammenbricht, wenn etwas nicht nach Plan funktioniert.

Für mich als Mutter ist nicht das Schlimmste, dass alles überfordernd und anstrengend ist (was es zweifelsfrei ist), sondern was wir unseren Kindern für Werte vermitteln, z.B. den stillen Gehorsam auch gegenüber – aus meiner Sicht – sinnlosen Maßnahmen (Maske im Freien, selbst wenn wir alleine durch die Leibstraße gehen). Ich bin bestürzt, dass wir den Bedürfnissen unserer Kinder nicht im Geringsten gerecht werden und noch viel mehr, dass keiner vehement für diese eintritt. Wir wissen, dass Kinder eine besonders schlechte Nutzen-Schaden-Relation bezüglich der Maßnahmen haben (geringes Risiko durch die Erkrankung, hoher Schaden durch die Maßnahmen), die wir ihnen seit einem Jahr auferlegen, um uns Erwachsene zu schützen (z.B. Studie, dass jedes dritte Kind inzwischen psychisch auffällig ist, 60% schädliche Auswirkungen des Maskentragens bei Kindern,…). Ich soll weiter still vertrauen auf Politiker, Pädagogen und Kinderärzte, Menschen, die sich aus meiner Sicht für das Wohl unserer Kinder einsetzen sollten und die weiter die Rechte unserer Kinder dem “Gesellschaftswohl” unterordnen.

Ich sehe, wie meine Kinder leiden, obwohl sie ein recht stabiles und liebevolles Umfeld haben. Aber was noch schlimmer ist, ist, dass wir alle nicht sehen, wie Kinder leiden, die kein solches Umfeld haben. Als Psychiaterin für Wohnungslose habe ich in den letzten Wochen von so vielen allein gelassenen Kindern bereits vor der Pandemie gehört. Meine Patienten haben mir berichtet, wie sie selbst als Kinder zu Hause eingeschlossen und  von der Mutter als einziger Bezugsperson geschlagen wurden, wenn sie nicht dazu bereit waren, deren Wahnsystem zu bestätigen (die Mutter war wahnhaft davon überzeugt, dass die Tochter von anderen gequält wird und daher sicherer zuhause aufgehoben ist). Ein weiterer Patient hat erzählt, wie seine einzige Kontrolle als sechsjähriges Kind darin bestand, die kleine Schwester aus der Situation zu ziehen, bevor der Vater zuschlug. Und während den Patienten oft die Tränen kommen, wenn sie erzählen, frage ich mich, wer dabei wohl alles weggeschaut hat. Momentan wird diese Gewalt mehr und wir schauen alle einfach weg. Ich bin froh, wenn ich später meinen und anderen Kindern sagen kann, dass ich monatelang alles versucht habe, mich für Kinder einzusetzen, versucht habe, nicht einfach weg zu sehen. Aber es macht mich wütend, traurig und hilflos, hierbei so wenig Unterstützung zu erhalten und auf niemanden vertrauen zu können, der laut und deutlich zum Wohle unserer schutzbedürftigsten kleinen Menschen eintritt und diese ganz deutlich als übergeordnet schützenswert bewertet.

Nina Seebach