Mittlerweile gibt es eine Fülle von Autoren, Kurs- und Seminarleitern sowie Therapeuten und auch Ärzten, die sich mit ‚Achtsamkeit‘ beschäftigen – sowohl in Form von Veröffentlichungen wie auch mit Therapie- oder Seminarangeboten. Überwiegend, so scheint es, steht das ‚Ich‘ und dessen „Achtsamkeit“ im Zentrum der jeweiligen Angebote, je nach Qualifikation der Anbieter.
Vielfach geht es um die Verbindung buddhistischer Lehre und Achtsamkeitspraxis, um den Hinweis oder die Feststellung, dass diesem allen verschiedene Konzepte zugrunde liegen, aber auch um die unterschiedliche Verwendung des Begriffes „Achtsamkeit“ (buddhistisch: sati; ursprünglich: pãli) und dessen Interpretation, wie
- Zustand der Geistesgegenwart
- Form der Aufmerksamkeit
- Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand
- spezielle Persönlichkeitseigenschaft
- Methode zur Verminderung von Leiden
- Praxis der Zuwendung
- Selbstregulation der Aufmerksamkeit
- rezeptive Aufmerksamkeit und Bewusstheit von momentanen Vorgängen und Erfahrungen
- Panorama-Bewusstheit (1)
Zudem werden wir mit Fragestellungen konfrontiert, wie
- Wozu dient Achtsamkeit?
- Was macht Achtsamkeit erforderlich?
- Wie gelangt man zu Achtsamkeit?
- Was bedeutet Achtsamkeit?
- Warum ist Achtsamkeit wichtig?
- Wie wirkt Achtsamkeit? (2)
Verwiesen wird im Zusammenhang mit diesen Fragestellungen auf Bereiche wie Bildung (Wissensvermittlung und Wissensaneignung), Medizin (Arzt-Patient-Beziehung), Forschung wie Neurowissenschaften (Erkenntnissuche und Erkenntnisgewinn), Politik (Gesellschaftsform, Machtverhältnisse und -ausübung, Parteien und Wählerschaft) oder Unternehmen (Führungskräfte und Mitarbeiter).
In einem Artikel in „mindfulness.swiss“ befindet sich folgendes Zitat: „In einer Welt, die zunehmend gespalten und voller Angst und Ungleichheit ist, kann Achtsamkeit uns helfen, zu unserer angeborenen Wachheit und unserer Menschlichkeit zurückzukehren. Von hier aus können wir gesundere und weitsichtigere Entscheidungen treffen und eine Politik entwickeln, die der Gesellschaft Ganzheit und Wohlbefinden bringt. Das ist eine wunderbare Gelegenheit in einer Zeit, in der die Welt in einem bedrohlichen Zustand zu sein scheint.“ (3)
Daraus kann man ableiten: Achtsamkeit ist auch gleich Wachsamkeit. Um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken, sind Achtsamkeit/Wachsamkeit des Einzelnen erforderlich – das ist zwar eine notwendige Bedingung bzw. Voraussetzung, jedoch keine hinreichende.
Hinreichend bedeutet, die Achtsamkeit/Wachsamkeit der Einzelnen zu Solidargemeinschaften zu bündeln. Achtsamkeit, als Bewusstheit und Wachheit zugleich, heißt demzufolge auch, Gespür dafür zu haben, was untereinander vereint oder spaltet, den sozialen Frieden aufrechterhält oder bedroht, was gesund oder krank macht, was nützt oder schadet.
„Gesundere und weitsichtigere Entscheidungen zu treffen“ (4), könnte demnach bedeuten: Achtsamkeit hilft, den gesunden Menschenverstand zu gebrauchen, Rückkehr zur „angeborenen Wachheit und unserer Menschlichkeit“ (5) und deren Bewahrung und Schutz. Der Mensch als biopsychosoziales Wesen sollte also stets seine Achtsamkeit dafür verwenden, aufmerksam und bewusst seine Biologie in Einheit mit Geist und Seele zu reflektieren sowie empathisches und individualkompetentes Wirken in einem sozialen Organismus einzubringen.
An dieser Stelle folgt ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns die Welt mit ihrer artenreichen Fauna und Flora vor – jedoch ohne Mensch. Zu beobachten ist, wie bei jedem Ökosystem ohne menschliche Eingriffe, dass es kaum zu Fehlentwicklungen kommt, dass eine natürliche Anpassung und Auslese stattfindet, die verschiedensten Arten sich entwickeln, Ernährungs-, Fortpflanzungs- und Revierverhalten ineinandergreifen und es insgesamt dazu führt, dass ein mehr oder minder empfindliches Ökosystem erhalten bleibt und sich entwickelt.
Fast scheint es so, dass „Mutter Natur“ in achtsamer Weise genau dafür sorgt, als sei dies ein Naturgesetz: Achtsamkeit als ein gesetzmäßiges Erfordernis zur Erhaltung, Entwicklung und zum Schutz des Systems, in dem verschiedenste Individualitäten aufeinandertreffen und in Koexistenz und Konkurrenz miteinander leben müssen. Aber auch für Achtsamkeit gilt: Cui bono? (wem nützt es?).
In einer Diktatur z. B. verhalten sich die Herrschenden achtsam gegenüber ihrem Machterhalt und der Wirksamkeit ihrer Unterdrückungsinstrumente – man weiß: Unachtsamkeit kostet Machtverlust. In einer Demokratie agieren die auf Zeit gewählten Machtinhaber mit der ihnen übertragenen Macht achtsam gegenüber der Struktur und dem Funktionieren demokratischer Verhältnisse, also mit einer achtsamkeitsbasierten Machtausübung, sich mit Achtsamkeit für und gegenüber dem Souverän zu verhalten. Aber auch für den Souverän gilt das Erfordernis der Achtsamkeit gegenüber der Demokratie.
Diesbezüglich gibt der Befindlichkeitszustand des Souveräns Auskunft über den Zustand der jeweiligen gesellschaftlichen (demokratischen) Verhältnisse und ist zugleich Ausdruck des Verhältnisses von den auf Zeit gewählten Machtinhabern und dem Souverän zueinander. Die Veränderung demokratischer Verhältnisse zulasten des Souveräns bedeutet dessen Unachtsamkeit, also Verlust der Achtsamkeit/Wachsamkeit einhergehend mit Verlust der „rezeptive(n) Aufmerksamkeit und Bewusstheit von momentanen Vorgängen und Erfahrungen“ (6).
Dies wäre eine Art Sedierung der kollektiven Achtsamkeit und ist machbar über Ideologien als „Opium für das Volk“ (7). Folglich kann eine allgemeine Definition zur ‚Achtsamkeit‘ hilfreich sein – in diesem Falle eine Arbeitsdefinition:
„Menschliche Achtsamkeit ist die mentale Ausrichtung von Wahrnehmung, Kommunikation und Tätigkeit auf Erscheinungen der gesellschaftlichen, sozialen und biologischen Umwelt (Politik, Wirtschaft, Kultur, Natur) sowie der eigenen biopsychosozialen Befindlichkeit hinsichtlich deren
a) Eigenschaften, Prozesse und Zustände und
b) Dynamik, Gesetzmäßigkeiten, Konstanz, Normen, Regeln und Werte betreffend und ist charakterisiert durch Aufmerksamkeit, Empathie, Interesse, Konzentration, Sensibilität und Wertschätzung.“ (8)
Achtsamkeit richtet sich wesentlich auf das Mensch-Sein und die Menschlichkeit. „Demokratie ist die politische Form der Menschlichkeit.“ (9) Diese Aussage ist eine gewaltige emotionale Botschaft und fand dennoch wenig Beachtung. Daher ist es wichtig, was unter Menschlichkeit zu verstehen ist. Fassbare Definitionen sind nicht zu finden, eher unsystematische Aufzählungen, was zur Menschlichkeit gehört bzw. gehören könnte.
Achtsamkeit richtet sich nicht nur auf die Menschlichkeit – sie ist auch ihr wesentlicher Bestandteil und wirkt auf weitere mögliche Bestandteile, wie z. B.: Anteilnahme, Anstand, Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Großmütigkeit, Güte, Menschenliebe, Mitgefühl, Mildtätigkeit, Nächstenliebe, Nachsicht, Rücksichtnahme, Sittlichkeit, Toleranz, Uneigennützigkeit, Verständnis, Vernunft, … Wie achtsam sich auf Zeit gewählte Machtinhaber und der Souverän diesbezüglich verhalten, gibt Auskunft über den Zustand der gesellschaftlichen (demokratischen) Verhältnisse. Die Verletzung von Menschenrechten und das Antasten der Menschenwürde sind gegen die Menschlichkeit gerichtetes Wirken und damit gegebenenfalls Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Achtsamkeit der auf Zeit gewählten Machtinhaber gegenüber ihrem Machterhalt und ihrer Machtausübung und die Unachtsamkeit des Souveräns gegenüber Veränderungen der gesellschaftlichen (demokratischen) Verhältnisse führt letztlich zum Verlust der Souveränität des Souveräns – sprich, es erfolgt die Dekomposition und Paralysierung der Demokratie. Demzufolge ist ‚Achtsamkeit‘ nicht nur eine philosophische, psychologische und/oder therapeutische Kategorie – man kann sie auch als eine politische Kategorie betrachten.
Peter Johr, Psychagoge
Quellen:
(1) Siehe auch: de.wikipedia.org, „Achtsamkeit (mindfulness)“
(2) Siehe auch: M.Williams, Jon Kabat-Zinn et a., Arborg Verlag, Freiburg im Breisgau, 2. Auflage 2018
(3) mindfulness.swiss / Politik I MBSR-Verband Schweiz, „Achtsamkeit in der Politik“, Zitat von Jon Kabat-Zinn, Begründer des MBSR-Trainings
(4) ebenda
(5) ebenda
(6) Siehe auch: de.wikipedia.org, „Achtsamkeit (mindfulness)“
(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Opium_des_Volkes, Religion als „das Opium des Volkes“ ist eine Aussage von Karl Marx. Das Zitat stammt aus der um die Jahreswende 1843/44 verfassten Einleitung zu seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Diese Einleitung veröffentlichte er 1844 in der zusammen mit Arnold Ruge herausgegebenen Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher.
(8) © Peter Johr, März 2021
(9) Tomas Garrigue Masaryk, Erster gewählter tschechoslovakischer Präsident, Rede anlässlich seiner Präsidentenwahl am 14. November 1918 von der damals in Prag tagenden revolutionären Nationalversammlung.
Ergänzendes:
„Wir sind eine Welt – Dalai Lama ermutigt zu Umweltmanagement.“, Buddhismus aktuell, 4 / 2009, Dalai Lama
„Die Wut kommt aus der Tiefe des Herzens“, In: Vanity Fair 13 / 2008, Dalai Lama, „Das Buch der Menschlichkeit“, Bastei Lübbes Taschenbücherund Gustav Lübbe Verlag, 1999
„Dalai Lama – Gewagte Denkwege – Wissenschaftler im Gespräch mit dem Dalai Lama“, Hrsg. Jeremy W. Hayward / Francisco J. Varela, Piper Verlag, 1992
„Ethik ist wichtiger als Religion – Der Appell des Dalai Lama an die Welt“, Red Bull Media House GmbH, 2015
„Die zwei Gesichter des Dalai Lama – Der sanfte Tibeter und sein undemokratisches Regime“, In: Stern 32 / 2009
Ghante Henepola Gunarantana, „Die 4 Säulen der Aufmerksamkeit – Philosophie & Praxis für das tägliche Leben“, Scorpio Verlag, 20014
Majorie Thompson, „Achtsamkeit – Vom Umgang mit der eigenen Seele“, Verlag Herder , 1995
„Buddha für Christen – eine Herausforderung“, Herderbücherei, 1986
Svea von Hehn / Arist von Hehn, „Achtsamkeit in Beruf und Alltag“, Haufe-Lexware GmbH & Co.KG, 2015
„Die vier edlen Wahrheiten – Texte des ursprünglichen Buddismus“, Hrsg. Klaus Mylius, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, 1985