von Uwe Werner Schierhorn
Nachdem bei dieser 12-teiligen Aufsatzreihe zu den Weltenrettern mit Stanislav Petrov begonnen wurde, geht es in diesem Beitrag mit der Tat von Rainer Rupp weiter. Sie ereignete sich gerade einmal 46 Tage später, also ebenfalls vor genau 40 Jahren.
Able Archer 83 und der „Fall RJaN“
Aufgrund der sich verschärfenden internationalen Lage beschloss die Sowjetunion, ab 1981 ein Programm namens „RJaN“ zu starten. Übersetzt heißt „Raketna-Jadernoje Napadenije“, „Atomraketenangriff“. Dabei handelt es sich um eine Software, die aus vielen Informationen klären soll, ob der Gegner einen atomaren Schlag plant. Der ehemalige KGB-Vorsitzende und damalige Staatschef Juri Andropov hob dieses Programm auf die höchste Prioritätsstufe.
Sowohl die NATO als auch der Warschauer Vertrag führen jährlich wiederkehrende Übungen durch, meist im Herbst. Diese Übungen beinhalten auch Übungs-Szenarien mit Atomwaffen.
Während der jährlich wiederkehrenden nuklearen Kommandostabsübung der NATO „Able Archer“ gab es 1983 folgende Gegebenheiten und vor allem Änderungen bzw. Neuerungen zu den Vorjahren, die das Programm RJaN als Hinweise für einen bevorstehenden Angriff der NATO deutete:
- Die Pershing II Atomraketen wurden in Westeuropa aufgestellt
- Die Kodierung des Funkverkehrs wurde geändert
- Es herrschte zu Übungsbeginn Funkstille
- Die Staatschefs waren eingebunden und
- die Sowjetunion meinte, die NATO hätte die höchste Alarmstufe (DEFCON 1)
- Im Vorfeld wurde eine koreanische Passagiermaschine über sowjetischem Territorium abgeschossen, wobei es sich mutmaßlich gleichzeitig um ein Spionageflugzeug hätte handeln können.
Dadurch gab es in der politisch-militärischen Führung der Sowjetunion die Befürchtung, dass es sich bei Able Archer 83 nur zum Schein um eine Übung handeln könnte, hinter deren Deckung ein tatsächlicher Angriff der NATO verborgen werden sollte.
Die Sowjetunion nahm also aufgrund des Programmes „RJaN“ an, dass die NATO einen Erstschlag gegen sie plante und die Übung Able Archer 83 dazu nur der Vorwand sei. Um dem zuvorzukommen, plante die Sowjetunion einen nuklearen Präventivschlag gegen die NATO. Dieser entspricht dem „Fall RJaN“.
11. November 1983
Der DDR-Aufklärungs-Offizier Rainer Wolfgang Rupp (* 21.09.1945), genannt „Topas“, stationiert im NATO-Hauptquartier in Brüssel, sozusagen an der „Quelle“, hatte es sehr schwer, Moskau davon zu überzeugen, dass „Able Archer 83“ eben keine nur scheinbare Übung war. Er sendete ständig Informationen zur HVA Hauptverwaltung Aufklärung nach Berlin (DDR), die von seinem Führungsoffizier Karl Rehbaum nach Moskau weitergegeben wurden. Es schien lange Zeit so, als könne er Andropov nicht überzeugen. Schließlich lenkte Moskau ein und die Situation entspannte sich.
Die US-Geschichtsforscher Mark Kramer und Simon Miles behaupten nun, dass die Tat Rupps übertrieben dargestellt sei oder nicht stimme. Diese Ansicht wird im Wikipedia dargestellt. Jedoch bestätigen maßgebende CIA-Mitarbeiter Rupps Version. Kramer und Miles begründen ihren Standpunkt damit, dass im Keller der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der KPdSU, keine bestätigenden Unterlagen gefunden worden.
Der Grund dafür könnte entweder sein, dass aus Geheimhaltungsgründen nur wenige Personen informiert wurden oder dass Unterlagen im Nachhinein entfernt wurden.
Andropovs ehemalige Kollegen beim KGB informierten ihn mit den Daten aus Berlin (DDR). Zum Archiv des Geheimdienstes (KGB) haben US-amerikanische Geschichtsforscher natürlich keinen Zutritt.
Dieses Ereignis von 1983 ist nach Meinung des Autors das gefährlichste unter den ein bis zwei gefährlichen jährlichen Ereignissen der letzten 80 Jahre (Entscheidungsfehler infolge Gruppendynamik und Fehlinterpretation der Situation beim Gegner).
In einem Filmausschnitt wird das Geschehen deutlich. Weiterführende Informationen zum „Weltenretter“ befinden sich im Literaturverzeichnis.
Fazit
In den vergangenen 80 Jahren waren in der Literatur mindestens 80 besorgniserregende Vorfälle zu finden, meist in den USA geschehen. Wenn eine Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis dauerhaft größer Null ist, wird dieses Ereignis mit Sicherheit eintreten, irgendwann.
Deshalb muss das Risiko des Atomkrieges-aus-Versehen idealerweise auf Null gebracht werden. Es gilt also, Missverständnisse auszuschließen und technische und menschliche Fehler zu minimieren bzw. über diese sofort zu kommunizieren. Eine große Rolle spielt dabei ein gemeinsames, internationales Frühwarn- und Entscheidungszentrum. Im Zentrum wird Kommunikation nach aktuellem Stand der Wissenschaft und Technik umgesetzt. So zum Beispiel maximaler Datenaustausch in Echtzeit. Das Zentrum fördert durch die Kooperation das gegenseitige Vertrauen. Vertrauen ist Vorbedingung für den Frieden.
Atomwaffen und ihre Peripherie stellen das größte globale Sicherheitsrisiko aller Zeiten dar. Sie sind praktisch unbeherrschbar und militärisch sinnlos, da sie das Kriegsgeschehen sicher eskalieren lassen. Die Atomwaffentechnik befindet sich in einer Sackgasse, aus der sie nicht entkommen kann. Eine sofortige weltweite Abrüstung und Vernichtung der Waffen wäre die logische Konsequenz.
Literaturverzeichnis
Bläsius, K.H. (2019-z.Z.). „Atomkrieg aus Versehen“. Initiative. https://atomkrieg-aus-versehen.de/ |
Schierhorn, U.W. (2021): Fehlalarme, Unfälle und Beinahe-Katastrophen mit Atomwaffen. Artikel. Kurzversion: https://www.fwes.info/fubk-21-1-SHORT-de.pdf |
Schierhorn, U.W. (2021): Fehlalarme, Unfälle und Beinahe-Katastrophen mit Atomwaffen. Artikel. Langversion: https://www.fwes.info/fubk-21-1-LONG-de.pdf |
Schierhorn, U.W. (2021): Fehlalarme, Unfälle und Beinahe-Katastrophen mit Atomwaffen. Artikel. Druckversion (1 Blatt kompakt): https://www.fwes.info/fubk-21-1-FOUR-PAGES-de.pdf |
Schierhorn, U.W. (2023). Mögliche Maßnahmen zur Reduzierung des Atomkriegsrisikos – Vorschläge: https://atomkrieg-aus-versehen.de/massnahmen-vorschlaege/ |
Bläsius, K.H. (2023). Atomkrieg aus Versehen?. Vortrag. OK54 Bürgerrundfunk. https://ok54.de/archiv/9051 |
Filmausschnitt Rupp https://odysee.com/@BassAzubi2:c/Filmausschnitt_Rupp:9 |
Die Aufsatzreihe handelt von 7 Weltenrettern, menschlichen Fehlern, technischen Fehlern, risikoerhöhenden Ursachen, risikosenkenden Maßnahmen sowie K.I. (Künstlicher Intelligenz) im Zusammenhang mit Atomwaffen.
An folgenden Terminen erscheinen die Artikel:
26.09.2023: 40 Jahre Tat von Petrov
11.11.2023: 40 Jahre Tat von Rupp
15.01.2024: Menschliche Fehler
15.03.2024: Technische Fehler
15.05.2024: Risiko Erhöhung
15.07.2024: Risiko Senkung
15.09.2024: K.I. Künstliche Intelligenz
09.11.2024: 45 Jahre Tat von Brown
18.09.2025: 45 Jahre Tat von Livingston
18.10.2025: 60. Geburtstag von Preminin
30.01.2026: 100. Geburtstag von Archipov
25.10.2027: 65 Jahre Tat von N.N.
Anmerkung der Redaktion: Der Autor ist Mitglied des Landesvorstands NRW (Säule Machtbegrenzung) und Mitglied der AG Frieden Bund. Er bietet auf Anfrage Vorträge zum Thema Weltenretter an.