Die Würde des Menschen ist unantastbar

von Karsten Wappler

Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Das bedeutendste Gesetz unserer Gesellschaft ist im Grundgesetz fast unantastbar an erster Stelle festgeschrieben und hielt mehr als ein halbes Jahrhundert stand gegen alle Angriffe. Die Festschreibung der Würde des Menschen war auch schon in der Weimarer Reichsverfassung an entscheidender Stelle positioniert, wurde aber Opfer der darauf folgenden Diktatur und samt der ganzen Verfassung unter den Nazis gegen ihre eigene Gesetzgebung ausgetauscht.

Die Würde des Menschen

Die Bundesrepublik bekam 1949 ein neues Grundgesetz, nicht vom Volk, aber die Gesetze kamen noch nie auch nur irgendwo auf der Welt von einem Volk, sondern immer nur von vergleichsweise wenigen Menschen. Bedeutend ist, was diese Menschen für Ambitionen hatten und welchen Hintergrund.

Das Grundgesetz gestalteten 65 Menschen unter anderem mit Vorgaben für eine föderale Struktur durch die westlichen Alliierten. Diese 65 Menschen waren von den Landesparlamenten gewählte Mitglieder des neuen Parlamentarischen Rates (Bayern hielt sich da heraus). Dieser bestand mit wenigen Ausnahmen aus einer Mischung aus Mitläufern und Widerstandskämpfern der Nazizeit.

Eine der wichtigsten Aufgabe für sie war in dieser Zeit die rechtliche Aufarbeitung der Auflösung der Weimarer Reichsverfassung durch die Nazis, die das in der Tat mit rechtlichen Mitteln durchgeführt hatten, und die rechtliche Folgerung daraus. Daher kam es zu dem Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, der unabänderlich ist.

Warum ist dieser Absatz nun so entscheidend? Er sagt nichts anderes, als dass jeder Mensch als Individuum zu sehen ist und die Gesetzgebung genau darauf zu achten hat. Es gab im 20. Jahrhundert einige Entscheidungen und Definitionen des Bundesverfassungsgerichts, die aus diesem Artikel ein wahres Bollwerk gemacht haben.

Wer die Rechtsprechung in Klassen aufteilen will, sei es in Arier und Untermenschen, Männer und Frauen, Junge und Alte, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Parlamentarier und Volk, Geimpfte und Ungeimpfte oder sonst etwas, hat mit dem Grundgesetz ein Problem. Und genauso mit der Würde des Menschen.

Um dieses Problem aus der Welt zu schaffen, definieren einige die Bedeutungen um oder setzen einfach etwas anderes dagegen, wie beispielsweise die Gleichstellung. Wo die Menschen in Gruppen geordnet werden und diese dann explizit gefördert werden oder eben nicht. Ein Beispiel ist das Gesetz für die Gleichstellung von Frauen und Männern (BgleiG). Das gilt zwar nur für Bundesverwaltungen und Gerichte, aber es ist übersät mit Aufteilungen der Menschen in Gruppen, die unterschiedlich gesetzlich behandelt werden. Da sind dann nach §4 die Mitarbeiter dazu verpflichtet, diese Gleichstellung umzusetzen. Ein ganz klarer Bruch der Verfassung – aber machbar, weil die Schützer der Verfassung immer weniger unabhängig von der Politik und dem Mainstream sind und die Kniffe der Gesetzgeber auch kreativer werden. Heute redet man von dem „Schutzbereich“, für den der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz nur gelten soll.

Es gibt eine Formel für die Bedeutung der Würde, die lange Zeit in den Gerichten galt:

„Der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht und damit keiner Behandlung ausgesetzt werden, die die eigene Subjektsqualität prinzipiell in Frage stellt.“

Heute steht auch sie in der Kritik. Es findet eine Relativierung der Würde des Menschen statt, es geht immer darum, dass gesagt wird, es gibt mehrere Deutungen der Würde. Verdient man sich die durch seine Taten (oder durch seine Herkunft, wie unter den Nazis) oder hat jeder Mensch ein Recht auf seine Würde und ist sie bei allen gleich oder unterschiedlich? Nun, die deutschen Verfassungsgerichte haben sich schon sehr früh auf eine Definition, die den allgemeinen Menschenrechten entspricht, geäußert und auch die oben genannte Formel angewendet. Diese stammt aus der Zeit der Aufklärung und hat mehrere Väter, wie Immanuel Kant und später Günter Dürig. Und eigentlich ist alles klar, es sei denn, man will es partout nicht. Dann wird herumgedeutet, bis es irgendwann mal klappt und das Bollwerk fällt.

Der Absatz 1 des 1. Artikels ist in Gefahr, seine Bedeutung zu verlieren und damit Tür und Tor zu öffnen für jegliche Machtinteressen und jeglichen Missbrauch.

 

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